Der Führerstaat by Frei Norbert
Autor:Frei, Norbert [Frei, Norbert]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406644504
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-05-03T16:00:00+00:00
Heilen, Verwerten, Vernichten
Die längst unüberblickbar gewordene Gleichzeitigkeit von traditionellem staatlichen Verwaltungshandeln und der Herrschaft »führerunmittelbarer« Sondergewalten, das oft groteske Nebeneinander von Normen- und Maßnahmenstaat, erleichterte Hitler und dem inneren Kreis der NS-Führung bei Kriegsbeginn zweifellos die Durchsetzung ihrer Weltanschauungspolitik. Ein signifikantes Beispiel dafür ist die sogenannte Euthanasie-Aktion, mit deren geheimer Vorbereitung Hitler den Chef seiner Privatkanzlei, Philipp Bouhler, und seinen Begleitarzt Dr. Karl Brandt zunächst nur mündlich betraute. Erst im Oktober 1939 unterzeichnete Hitler dann ein lapidares Beauftragungschreiben, das die Grundlage bildete für die Massenmorde der »Aktion T 4« (so benannt nach einem an der Tiergartenstraße 4 eingerichteten Sonderbüro)[119].
Die Vergasung von etwa 70.000 geistig Behinderten und psychisch Kranken, die unter Mitwirkung prominenter ärztlicher Gutachter systematisch vorbereitet und von Tarnorganisationen wie der »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten« in sechs speziellen Tötungskliniken in die Tat umgesetzt wurde, bildete nur den Auftakt eines sozialbiologischen »Reinigungsprozesses«, der in Friedenszeiten zwar mit Sterilisations- und Ehegesundheitsgesetzen eingeleitet, aber erst im Krieg in aller Radikalität durchgeführt werden konnte.
Trotz perfider Verschleierungsversuche drangen allerdings schon wenige Monate nach dem Anlaufen der Mordaktion Gerüchte an die Öffentlichkeit. Zu Jahresanfang 1941 war praktisch allgemein bekannt, daß in den psychiatrischen Krankenhäusern Schlimmes vor sich gehen mußte. »In weiten Kreisen der Bevölkerung herrscht große Erregung«, berichtete beispielsweise der Oberlandesgerichtspräsident in Bamberg, »und zwar nicht nur bei Volksgenossen, die einen Geisteskranken in ihrer Familie zählen. Derartige Zustände sind auf die Dauer unhaltbar, denn sie bergen in sich eine Reihe gefährlichster Unsicherheiten … So spricht man schon davon, daß im Zuge der Weiterentwicklung der Dinge schließlich alles Leben, das der Allgemeinheit keinen Nutzen mehr bringt, sondern sie – rein materiell gesehen – nur belastet, im Verwaltungsweg für nicht mehr lebenswert erklärt und demgemäß beseitigt werden solle.«[120]
Wie begründet diese gerade bei älteren Menschen anzutreffende Furcht tatsächlich war, zeigte die Entwicklung nach dem offiziellen Stopp des Euthanasieprogramms: Eine inzwischen begonnene Aktion »Sonderbehandlung 14f 13«, bei der Tausende von kranken und arbeitsunfähigen, aber auch politisch und rassisch unerwünschten KL-Häftlingen »ausgemustert« und zur Tötung in die Euthanasie-Anstalten verbracht wurden, lief ebenso weiter wie die im Frühjahr 1939 unter der Federführung eines »Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« begonnene Kinder-Euthanasie. Über den Kreis der Geisteskranken hinaus dehnten Polizei- und Sozialbehörden das Euthanasieprogramm auf immer breitere Gruppen gesellschaftlich »Unbrauchbarer« aus: »Verlegt« wurden schließlich auch »Asoziale«, Kriminelle, Psychopathen, Homosexuelle, Kriegshysteriker, erschöpfte Fremdarbeiter und bettlägerige Alte. Statt in den Gaskammern der »Aktion T 4« wurde nun in den regulären Heil- und Pflegeanstalten medikamentös gemordet, und neben dem steigenden Platzbedarf für die Kinderlandverschickung diente die verschlechterte Ernährungssituation der zweiten Kriegshälfte bis ins Frühjahr 1945 als Argument, »unnütze Esser« mit einer kalkulierten »Hungerkost« zu Tode zu bringen (in Bayern gab es dazu einen entsprechenden Erlaß des Innenministers). Insgesamt fielen dem »therapeutischen Töten«[121] schätzungsweise 150.000 Menschen zum Opfer.
Bei den politischen Organisatoren und dem aus den Reihen der SS rekrutierten technischen Personal der »Aktion T 4« handelte es sich in der Mehrzahl wohl um ideologisch festgelegte Nationalsozialisten; das Gros der gutachtenden – und im Rahmen wissenschaftlicher Experimente zum Teil auch selbst aktiv tötenden –
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